Das Bewusstsein der ganzen denkenden Menschheit ist von der Tatsache erfüllt, dass der Abbruch des letzten Weltkrieges keinen eigentlichen Frieden gebracht hat. Die verantwortungstragenden Staatsmänner sprechen selber aus, dass sich die Kluft zwischen West und Ost vertieft. Sie halten nicht mit ihren Befürchtungen zurück, dass die Gesamtkultur durch einen neuen Weltkrieg völlig vernichtet würde. Sie verweisen dabei auf die sogenannten Geheimwaffen, welche ihre Wirkung entweder schon gezeigt haben (Hiroshima) oder erst noch zeitigen werden, wie dies zum Beispiel von einem «Bazillenträger» geschildert wird, der viel tödlicher wirke als die Atombombe. Nicht nur sei es künftig möglich, dass das Leben einer ganzen Stadt ausgelöscht, sondern auch die gesamte Ernte des Landes bis zur Wurzel zerstört werde.
Solche Nachrichten gehen auf Mitteilungen zuständiger Komitees zurück, die von den Regierungen eingesetzt und kontrolliert werden. So sieht sich die Menschheit vor der Gefahr, dass sowohl die Errungenschaften der Zivilisation als auch die Naturgrundlagen, auf welchen diese beruht, vernichtet werden, das heisst vor einer inneren und äusseren Verwüstung.
Die Furchtgespenster des Krieges, des Huugers, der Seuchen, des Elends und der Heimatlosigkeit in allen Formen entmutigen und lähmen die Men• sehen, sowohl die einzelnen als auch die Gemeinschaften. Haltlosigkeit und Verbrechen nehmen zu.
Man spricht davon, dass nur eine Wendung zum Geiste, eine Spiritualisierung oder Moralisierung des Intellektes, der bis jetzt dem Materialismus und Utilitarismus gedient habe, die Menschheit retten könne. Und wer wollte die ununterbrochenen Anstrengungen, welche hierin von zahlreichen hochherzigen und uneigennützigen Menschen gemacht werden, verkennen oder unterschätzen! Aber die von ihnen ausgehenden Wirkungen lassen auf sich warten. Und inzwischen schreitet die Abwärtsentwicklung mit erschreckender Schnelligkeit einer neuen Katastrophe entgegen.
Hier darf nun an die tiefsten und umfassendsten Menschlichkeitsimpulse erinnert werden, die nicht nur Idee geblieben, sondern Tat geworden sind, an die Aufgaben des Roten Kreuzes, an deren Erfüllung stetig weiter gearbeitet wird. Henri Dunant, der Begründer des Roten Kreuzes, hat das gegenwärtige und noch kommende Unheil vorausgesehen. Er hat schon damals als Linderungsmittel der Leiden, die der Krieg mit sich bringt, die Neutralisation einer gewissen Anzahl von Städten vorgeschlagen, in die man die Verwundeten entsenden könnte und deren Bevölkerung, die sich ihrer annähme, durch diplomatische Konventionen gesichert würde. Dieser Vorschlag, auf zeitgemäss erweiterter Grundlage, eröffnet eine rettende Perspektive. Nicht nur um Städte, sondern um Bezirke, ja um ganze Länder handelt es sich heute. Wie könnten sonst die Millionenernten des Todes, der Hungersnöte und Seuchen, die Opfer der Atom- und Bazillenbomben, des ganzen sozialen Chaos, das eintreten wird, anders untergebracht werden als auf solchen Oasen der Menschlichkeit, wo jeder Mensch gleiche Rechte hätte, welchem Volk er auch angehört, und wo auch die notwendige ökonomisch-wirtschaftliche Sicherung vorhanden wäre! Und wie sollte dies weniger versucht werden als andere, aber verkehrte soziale Experimente, die sich so fürchterlich ausgewirkt haben! Die schrecklichen Gegenbeispiele: Verschleppung von Millionen anderer Volksangehöriger, Konzentrationslager, Vergasungen usw., sollten zur Gutmachung die Gemeinschaftsimpulse der Menschlichkeit auslösen.
Es ist die dringende Aufgabe der Schweiz, sich für die Verwirklichung dieses Zieles – der Aussparung ganzer Länder im Sinne Dunants und des Roten Kreuzes – einzusetzen. Dies liegt in ihrer Tradition. Die Geschichte weist sie darauf hin. Die historische Neutralität prädestiniert sie dazu. Das Wappen der Schweiz, das weisse Kreuz im roten Feld, erinnert jeden Augenblick an den Zusammenhang mit dem Roten Kreuz. Es ist die der Schweiz anheimgestellte Menschheitsaufgabe, welche sie gerade jetzt, in diesem historischen Moment, anzufassen und mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften der Erfüllung entgegenzuführen hat.
Mit diesem Beitrag müsste die Schweiz an den kommenden internationalen Konferenzen auftreten. Das ganze Volk sollte dahinterstehen. Dieser Tatgedanke muss in das Bewusstsein jedes Schweizers gerufen werden, und die entsprechende Pflege im Geistesleben, besonders in der Erziehung der Jugend, erfahren. Wer die junge Generation kennt, weiss, dass sie geradezu auf einen solchen Impuls wartet. Welche Begeisterung vermöchten da die Lehrer an den Schulen und den Hochschulen zu wecken! Für die Ärzte, welche an und für sich so eng mit dem Roten Kreuz verbunden sind, ist die Erfüllung dieser Aufgabe etwas Selbstverständliches. Sie vor allem werden sich dafür einsetzen.
Da es sich um eine Menschheitsaufgabe handelt, kann und darf sie nicht auf ein Volk beschränkt bleiben, auch nicht auf dasjenige Volk, von welchem sie, weil es in dessen Bestimmung liegt, auszugehen hat. Die Vertreter der Schweizerischen Eidgenossenschaft haben die Pflicht, bei den kommenden internationalen Konferenzen diesen Vorschlag an alle Regierungen heranzubringen. Auf allen Kontinenten müssten solche Menschlichkeitsoasen ausgespart werden und ihre geistigen, rechtlichen und wirtschaftlichen Grundlagen finden.
Hierin könnten sich die maßgebenden Vertreter aller Staaten, welche jetzt von einer zunehmenden Kluft zwischen West und Ost reden, vereinigen. Wenn die Schweiz versäumt, diese Menschheitsaufgabe mit ihrer ganzen Kraft anzupacken, so wird eine Unterlassungssünde begangen, welche sich bitter rächen muss.
Juni 1946
Albert Steffen
Dr. Emil Anderegg, Nationalrat.
Ferner die Nationalräte:
Fritz von Almen, Dr. Ernst Boerlin, Dr. Adolf Boner, Samuel Brawand, Dr. Rolf Bühler, Dr. Josef Condrau, Dr. Eugen Dietschi, Dr. Urs Dietschi, Gottlieb Duttweiler, Dr. Gallus Eugster, Jakob Fenk, Jakob Gabathuler, Dr. Paul Gysler, André Guinand, Dr. Konrad Ilg, Adolfo Janner, Dr. Ni-coles ]aquet, Albert Keller, Adrien Lachenal, Dr. Leo Mann, Dr. Kurt Leupin, Dr. Franco Maspoli, Jean Meier, Rudolf Meier, Karl Muheim, Dr. Alfred Müller, Dr. Hans Munz, Dr. Rudolf Niederhauser, Dr. Albert Oeri, Dr. Waldo Riva, Louis Roulet, Erhard Ruoss, Josef Scherrer, August Schirmer, Ph. Schmid-Ruedin, Friedrich Schneider, Heinrich Schnyder, Jakob Schwendener, Arnold Seematter, Heinrich Siegrist, Erwin Stirnemann, Ernst Studer, Josef Stutz, Dr. Max Wey, Edoardo Zeli, Paul Zigerli;
und die Ständeräte:
Walter Ackermann, Dr. Paul Altwegg, Bixio Bossi, Ernst Flükiger, Albert Malche, Walter Schaub, Johann Schmucki, Dr. Friedrich Wahlen, Gustav Wenk.
Schreiben der Schweizerischen Akademie
der Medizinischen Wissenschaften
Bern und Basel, den 1. Juli 1947
Herrn Bundesrat Dr. M. Petitpierre,
Vorsteher des Eidg. Politischen Departementes, Bern.
Hochverehrter Herr Bundesrat,
Am 18. Dezember 1946 hat Nationalrat Dr. Emil Anderegg ein Postulat betreffend die Neutralisation von Städten, Zonen und ganzen Ländern eingereicht, und dieses Postulat wurde von Ihnen, hochverehrter Herr Bundesrat, entgegengenommen.
Der Senat der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften hat in seiner Sitzung vom 31. Mai über das Postulat Anderegg diskutiert. Er hat auch Kenntnis genommen vom
«Rapport relatif aux localites et zones sanitaires et de securité», dem Bericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (Mai 1947), von der
«Documentation préliminaire fournie par le Comité International de la Croix Rouge, Vol. III, condition et protection des civils en temps de guerre, commission d’experts gouvernementaux» (14-26 avril 1947) sowie vom «Aufruf an das Schweizervolk» vom Juni 1946, unterzeichnet von Albert Steffen, Nationalrat Dr. E. Anderegg und einer grösseren Anzahl von National, und Ständeräten.
Der Senat hat auf Anregung von Nationalrat Anderegg und mit der wärmsten Empfehlung seines Ehrenmitgliedes, Prof. Max Huber, einstimmig beschlossen, das Postulat Anderegg dem hohen Bundesrat, bzw. dem Eidg. Politischen Departement, auf das dringendste zu empfehlen.
Das Problem der «Zones de securité», wie es von Nationalrat Anderegg postuliert auf «zeitgemäss erweiterter Grundlage», wie das Internationale Komitee des Roten Kreuzes es empfehlen möchte und in dem Drama von Albert Steffen «Märtyrer» eine packende literarische Darstellung erfahren hat, erscheint uns leider von sehr grosser Aktualität, und wir glauben zu wissen, dass weitere Kreise des In- und Auslandes sich dafür interessieren.
Wir wissen, dass Sie, hochverehrter Herr Bundesrat, und der ganze Bundesrat, diesem wichtigen Problem Ihr ganzes Interesse widmen. Wir möchten es dennoch nicht nur empfehlen, sondern Ihnen auch auf das herzlichste dafür danken, dass Sie die grosse Sache angelegentlich fördern werden.
Mit hochachtungsvollen Grüssen
Ihre sehr ergebenen
Für die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften
Der Präsident: Der Generalsekretär:
Prof. Dr. C. Wegelin. Prof. Dr. A. Gigon.
(Auch enthalten in: Brennende Probleme [1956], S. 27ff.; Hinweise und Studien zum Lebenswerk von Albert Steffen, Heft 8/9, Michaeli 1990, S. 65ff.)