Heinz Matile
10. Mai 1934-22. November 2021
Es gibt Menschen, die die Rolle des Chefs nicht spielen, ja nicht einmal in sie hineinschlüpfen müssen – sie sind es einfach. Darauf, dass das Amt des Präsidenten der Albert Steffen-Stiftung ein eher bescheidenes Präsidialamt ist, kommt es hier nicht an; es geht an dieser Stelle vielmehr darum, dass Heinz Matile seine Aufgabe als Leiter der Steffen-Stiftung mit seiner ganzen Persönlichkeit und der ihm eigenen natürlichen Autorität aus- und erfüllte, sie durch und durch ernst nahm und alles tat, um „dem Steffen“, wie er ihn vertraut-kollegial bezeichnete, würdig und mit allen zur Verfügung stehenden Kräften zu dienen.
Am 10. Mai 1934, auf den Tag genau sieben Monate vor Steffens 50. Geburtstag, in Biel geboren, kam Heinz Matile dann, als er selber 50 wurde, in dem Jahr in die Steffen-Stiftung, in welchem Steffens 100. Geburtstag begangen wurde – ein würdiger Beginn als Auftakt zu einer über 30-jährigen Arbeit, für die das Wörtchen „intensiv“ nicht intensiv genug ist.
Heinz Matile arbeitete sich mit der ihm eigenen Gründlichkeit in Steffens 70-bändiges Gesamtwerk ein, vertiefte sich in die auf 23‘000 Tagebuchseiten ausgebreitete Biographie, befasste sich mit den Bildern des malenden Dichters (was für den promovierten Kunsthistoriker und langjährigen Vizedirektor des Historischen Museums zu Bern eine Herausforderung darstellte), verwaltete gekonnt die Finanzen und führte die Administration der Stiftung, kümmerte sich als Hausherr verantwortlich um die Liegenschaft des Haus Hansi – und vor allem: Er ordnete, sortierte, archivierte, katalogisierte, bibliothekisierte, 30 Jahre lang, unermüdlich, bis (fast) alle unendlichen Stapel von Dokumenten, Briefen, Heften, Manuskripten, Büchern ihren ihnen zugewiesenen, sinnvollen Platz in Schubladen, Regalen, Ordnern, Hängeregistern und Dateien gefunden hatten.
Wenn es im Himmel ein aufgeräumtes, sauber etikettiertes Stübchen für von Sorgfältigkeit erfüllte Archivare geben sollte, weiss ich, wo ich Heinz Matile einst suchen gehen werde!
– Was natürlich nicht heisst, dass Heinz Matile hier auf den perfekten Archivaren reduziert werden soll; er war vielmehr so von der Verantwortung für Albert Steffen und dessen Werk durchdrungen, dass dieses Verantwortungsgefühl alle Tätigkeitsbereiche innerhalb der Stiftung, sowohl inhaltliche als auch organisatorische, durchzog.
Heinz Matile war ein guter, fürsorglicher Chef, korrekt bis in den letzten Rappen auf der Lohnliste hinein, in Selbstverständlichkeit auf die zu leistende Arbeit bezogen, auch fähig, Grenzen zu ziehen und nein zu sagen, wo ein Vorstoss, sei es von „aussen“ oder von „innen“, seiner Auffassung der zu vertretenden inhaltlichen Ausrichtung der Stiftung widersprach. Die Stiftung hatte unter seiner Führung vielleicht etwas von einer Burg, einer Festung, in der es ein Geistesgut zu verteidigen galt, und wenn Angriffe gesichtet oder befürchtet wurden, zog der Burgherr im Bewusstsein der gefühlten Verantwortung die Zugbrücke hoch, um sowohl den verehrten Ahnen als auch die diesem dienenden und ihm selbst anvertrauten Seelen zu schützen.
Der Ahne – das war eben „der Steffen“, dem sich Heinz Matile nicht nur innerlich durch die treue Arbeit zu Wesen und Werk des Dichters verbunden fühlte, sondern der ihm auch sozusagen von aussen, durch die Gegebenheiten der Herkunft, nahe stand. Dem entspricht, dass Heinz Matiles besonderes Interesse der Biographie des jungen Steffen galt. Zwar war Heinz Matiles Heimatstadt Biel nicht das Dörflein Wynau, doch der gemeinsame Bezug zur Hauptstadt war gegeben; zwar war Heinz Matiles Vater nicht Landarzt, sondern Versicherungsmann, doch die solide Verbindung zur Heimat war auch hier Familienerbe. Dieses im besten Sinne erlebte und gelebte „Schweizer Sein“, diese unaufgeregte Liebe zum Vaterland und die Dankbarkeit dafür, auf solch gutem, der Entfaltung gesunden Selbst- und Erdenbewusstseins dienendem Boden seine Wege gehen zu dürfen, das den echten Helvetier zumindest in den Augen der per se heimatloseren Deutschen ausmacht – also diese glückliche und selbstverständliche Heimatverbundenheit brachte Heinz Matile „dem Steffen“ von selbst ganz nahe.
Zum späteren Burgherren, der im Alter dann zum selbsterklärten Eremiten wurde, passt es durchaus, dass er seine Frau Angela nicht irgendwo auf der weiten Erde suchen gehen musste, sondern dass sie als junge Frau besuchshalber ausgerechnet in Heinz Matiles Elternhaus landete, wo man sich unkompliziert verlieben und dann heiraten konnte, ohne erst noch etwaige umständliche und im Grunde überflüssige andere Liebesabenteuer machen zu müssen. Als Hindernis hätte gewertet werden können, dass die junge Frau zunächst gar nicht daran dachte, sich sofort zu binden, sie wollte vielmehr erst einmal lernen und wirken. Doch offensichtlich wusste Heinz Matile damals schon, dass, wer zielbewusst ist, auch beharrlich sein muss, und dass für den, der etwas erreichen will im Leben, die Vorbedingung zum Erreichnis – Arbeit ist. Und so konnte er nach fünf Jahren Werbung seine Frau zum Altar führen. 50 Jahre später, einen Tag vor dem Jahrestag der Goldenen Hochzeit, musste er sie, selbst noch diesseits der Schwelle verbleibend, in die andere Welt hinein verabschieden.
Dass nach der Zeit, die der Familie und der beruflichen Konsolidierung im Umkreis von Bern gewidmet war, durch die Aufnahme der Arbeit in der Albert Steffen-Stiftung in Dornach eine 25-jährige intensive Zusammenarbeit der beiden Gatten im Dienste einer gemeinsam geliebten Sache entstand, wurde von beiden als besonderer Glücksfall betrachtet und mit entsprechender Dankbarkeit gewürdigt.
Und eigentlich ist es nicht richtig bzw. nur halbrichtig zu sagen: Heinz Matile prägte die Steffen-Stiftung über Jahrzehnte hinweg mit seiner Persönlichkeit – denn die eigentliche Prägung erfolgte eben durch die gemeinsame Arbeit von Angela und Heinz Matile. Er war der Chef, das war klar; um einen Hinweis auf die Frage zu erhalten, welche Rolle Gattinnen und Gefährtinnen im Leben wichtiger Männer spielen können, empfehlen wir, ein beliebiges Steffen-Buch aufzuschlagen, es findet sich fast überall etwas zum Thema!
Heinz Matile war ein gebildeter, kultivierter, für viele Lebensgebiete interessierter Mann, einer, der „sich auskannte“.
Und wohlgemerkt auch einer, der dem Sinnenleben und dessen Genüssen durchaus zugetan war: Wenn der Dom oder das mittelalterliche Kloster besichtigt war, war das naheliegende gute Restaurant der nächste Anlaufpunkt, und beim Essen musste dann nicht gelehrt doziert werden, sondern dort interessierte man sich für die Reise- und Tischgenossen, hatte Freude an deren Erzählungen aus ihrem Leben und am Beisteuern von Anekdoten aus dem eigenen.
Ein einziges dieser liebenswürdigen Geschichtchen sei hier zum besten gegeben, eines, das mit „dem Steffen“ zu tun hat: Der Vater Heinz Matiles, seines Zeichens Zweigleiter in Biel, war mitverantwortlich für die Aufführung des „Pestalozzi“ in Biel, wozu das Dornacher Schauspielensemble eingeladen wurde – samt dem verehrten Verfasser des Stücks. Und natürlich hätte Zweigleiter Hubert Matile es gerne gesehen, wenn sein einziger Sohn Heinz eines der Kinder aus der den alten Pestalozzi umgebenden Waisenschar gespielt hätte, am liebsten vielleicht den Buben, der mit dem ehrwürdigen Pestalozzi-Hendewerk das Sprüchlein von den „Eins-Zwei-Drei-Vier-Fünf Bigen-Bagen-Begen-Bogen-Postpapier“ fabuliert. – Allein, und das erzählte dann der alte Heinz Matile mit verschmitzt strahlenden Augen: Bub Matile weigerte sich standhaft, die Bühne zu betreten, und – hier wurde der Blick noch vergnügter – dieser Weigerung habe er sein ganzes Leben lang die Treue gehalten, die Bretter, die anderen die Welt bedeuten, hatten für Heinz Matiles grundsolides Wesen keinerlei Anziehungskraft.
Wer diesen Menschen, der zu sich und für etwas stand, als „Chef“, als „Präsidenten“ gekannt hatte, war eigentümlich berührt davon, ihn in den letzten Jahren seines Lebens entkleidet der äusseren, der sozusagen amtlichen Würde zu erleben. Und das Berührendste dabei war, dass dieser Mann auch in Pantoffeln und mit Rollator die Würde bewahrte. Dies waren unwesentliche Äusserlichkeiten, über die er einfach hinwegging; es bedeutete nichts, in welchem Aufzug man ihn vorfand. Man begegnete sich im Wesentlichen – als Mensch. Und das trägt die Würde schlicht in sich.
Aufgebahrt im Sarg, nach 87 Lebensjahren, stand man der körperlichen Hülle eines Menschen gegenüber, der sein Leben gelebt hat. Der erste Eindruck war der, dass Rudolf Steiner wohl recht gehabt haben muss mit der Bemerkung, dass eine markante Nase auf eine markante Persönlichkeit schliessen lässt (ein Merkmal übrigens, über das „der Steffen“ auch verfügte). Man sah Konzentration, Sinnigkeit, man blickte in ein Gesicht, das in seiner Strenge auch das eines nach innen lauschenden gelehrten Mönches sein könnte – und konnte sich zu der Frage eingeladen fühlen: Wie und als was der wohl wiederkommen wird?
Christine Engels