Leserbrief zum Artikel „Von Bildern umstellt“ von Johannes Kiersch, „Das Goetheanum“ vom 21.4.17
Der Beitrag wurde von der Wochenschrift nicht angenommen und wird hier erstmals veröffentlicht.
Johannes Kiersch beschreibt im Zuge der „gegenwärtigen Neubesinnung der anthroposophischen Bewegung auf ihren esoterischen Kern“ „die verfehlten Bilder privater Glaubensvorstellungen“, die verantwortlich seien für eine „okkulte Gefangenschaft“, in der sich die Bewegung befinde – und macht selber nichts anderes, als Behauptungen aufzustellen, diese als Wahrheiten zu deklarieren und Konsequenzen daraus zu schlussfolgern, die die Missstände im anthroposophischen Leben der Gegenwart erklären sollen.
„Albert Steffen und Günther Wachsmuth haben bis zu ihrem Tod im Jahre 1963 an der Fiktion festgehalten, dass der Vorstand weiterhin ‚esoterisch‘ sei.“
Wenn Kiersch der Meinung ist, dass Steffen und Wachsmuth keine esoterische Einsicht und dementsprechende Handlungsbefähigung besessen hätten, müsste er dies belegen. Es als Wahrheit hinzustellen und Steffen und Wachsmuth mit hauptverantwortlich für die sog. „okkulte Gefangenschaft“ zu machen, ist ohne Erweis unstatthaft. Die These, dass Steffen die Gesellschaft fast 40 Jahre lang in einer Überzeugung geführt habe, die auf „Fiktion“ beruhte, müsste doch zumindest ansatzweise belegt werden. Genauso unakzeptabel ist es, die „Denkschrift über Angelegenheiten der Anthroposophischen Gesellschaft in den Jahren 1925-1935“, in der namhafte Persönlichkeiten ihre Sicht der Vorgänge geschildert haben, einfach mit dem Attribut „schändlich“ zu belegen und deren Verfassern diffamierende Absichten zu unterstellen. Umgekehrt wird das Votum von Emil Leinhas schon deshalb als gültig dargestellt, weil dieser „einer der tüchtigsten Schüler Rudolf Steiners“ gewesen sei. So werden alte Gräben aufgerissen, einige Gruppierungen als „gut und richtig“ dargestellt, andere als „nicht gut und nicht richtig“, ja sogar schuldig ausgegrenzt.
Es scheint stimmig, dass diese Art von willkürlicher Wahrheitssetzung eingeleitet wird, indem dem jungen Rudolf Steiner, der die „Philosophie der Freiheit“ verfasste, eine wirklichkeitsgemässe Beurteilung seiner Darstellung über die Wahrheit abgesprochen wird. Rudolf Steiner wird von Kiersch als noch befangen in einer „abstrakten Allgemeinheit“ dargestellt, wenn er schrieb, dass (Zitat Kiersch, nicht Rudolf Steiner!): „alle freien Menschen sich in einer gemeinsamen Wahrheit einig sein werden“. Was sich an der angegebenen Stelle im 9. Kap. der „Philosophie der Freiheit“ tatsächlich findet, ist der Satz: „Der Freie lebt in dem Vertrauen darauf, dass der andere Freie mit ihm einer geistigen Welt angehört und sich in seinen Intentionen mit ihm begegnen wird“.
Wenn die esoterische Neubesinnung auf solchem geistigen Fundament aufgebaut wird, darf man wohl an ihrer Wirkmächtigkeit für das 21. Jhdt. zweifeln – vielleicht ist die anthroposophische Gesellschaft gar nicht in okkulter Gefangenschaft gefesselt, sondern einfach nur in Teilen von geistiger Beschränktheit gelähmt.
Christine Engels
Für den Stiftungsrat der Albert Steffen-Stiftung