Klaus Hartmann
Albert Steffen
Die jungen Jahre des Dichters
Biographie Band I, 464 Seiten
1. Auflage 2019, Verlag für Schöne Wissenschaften, Dornach/Schweiz
Es ist vollbracht. Nun erst, fast 60 Jahre nach seinem Tod, ist endlich der erste Teilband eines auf insgesamt drei Bücher projektierten Unternehmens zur Biographie Albert Steffens (1884 -1963) erschienen. Es geht also erstmalig um den „ganzen“ Steffen als Dichter, Anthroposoph und Mensch. Bisher liegen nur Untersuchungen zu Teilaspekten seines Schaffens vor, etwa das schöne Buch „Albert Steffen. Begegnungen mit Rudolf Steiner“ von Peter Selg (2009) oder die älteren Studien von Friedrich Hiebel (1960), Rudolf Meyer (1963) oder Ingeborg Woitsch (1996). Das neue Buch von Klaus Hartmann ist aus mehrfachem Grund ein mutiges und, wie nach der Lektüre deutlich wird, auch ein gelungenes Wagnis. Abgesehen von der im Vorwort angesprochenen immensen finanziellen und technischen Herausforderung, dieses zukünftig sich weit über tausend Seiten entfaltende Werk zu publizieren, wird mit Steffen eine der allgemeinen Öffentlichkeit weitgehend immer noch unbekannte Persönlichkeit vorgestellt. Das Interesse für dessen Person und die Relevanz seines künstlerischen, menschlichen und anthroposophischen Wirkens für unsere und seine damalige Zeit müssen also zunächst (wieder) geweckt werden, wenn an einen größeren Leserkreis gedacht ist, der über den engen Rahmen weniger Liebhaber, Kenner und Kritiker hinausgehen soll. Zudem ist es eine Publikation aus dem Dornacher Verlag für Schöne Wissenschaften, der sich vornehmlich und ausdrücklich der Pflege des künstlerischen Werks und Werkverständnisses Albert Steffens verpflichtet weiß. Können da sowohl der unbefangene wie der mit der Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft vertraute Leser eine Schrift erwarten, die über eine zeitlos verehrende Apologie und eine nachgereichte Rechtfertigung hinausweist? Über alle anderen im sogenannten Ur-Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft von Rudolf Steiner 1925 berufenen Mitarbeiter liegen, teilweise mehrfach, seit Jahren umfangreiche Biographien vor. Die Kenntnis dieser Werke und ihres jeweils ausgeführten spezifischen Erkenntnisinteresses dürften die Lektüre des vorliegenden Dokuments zu Albert Steffen mitbestimmen. Und das ist gut so. Denn durch das Zusammenschauen der verschiedenen Veröffentlichungen kann erst ein sachgemäßes Bild der in Rede stehenden Zusammenhänge erwachsen.
Der erste Band schildert Kindheit, Jugend und Studienzeit Steffens bis zu seinem fünfunddreißigsten Jahr (Die jungen Jahre des Dichters). Der zweite Teil wird die Zusammenarbeit mit Rudolf Steiner bis zu dessen Tod 1925 thematisieren und insgesamt bis 1935 reichen. Im dritten Abschnitt schließlich steht ganz Albert Steffens Aktivität als Erster Vorsitzender der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im Mittelpunkt. Was fällt auf?
Wer die, souverän durch einen jeweils dominant sich gebenden Biographen, gestalteten Werke zum Maßstab einer gelungenen „Biographie“ nimmt, etwa Rainer Stachs „Kafka“, Thomas Karlaufs „Stefan George“ oder Richard Ellmanns „James Joyce“, dürfte nach dem ersten Eindruck von der sich bewusst zurückhaltenden Geste Klaus Hartmanns erstaunt sein. Vordergründig wirken seine präzisen Hinführungen, kurzen Überleitungen und verbindenden sachlichen Klärungen so, als gehe es ihm im Hinblick auf Albert Steffen eher um ein „Lebensbild in Selbstzeugnissen“, hinter das der Biograph still zurücktritt. Schon der deutsche Schriftsteller Walter Kempowski musste sich fragen lassen, ob er bei seinem vielbändigen Jahrhundertprojekt „Das Echolot“ (ab 1993) nicht als bloßer Arrangeur und Herausgeber agiere, wenn er Texte aus Briefen, Tagebüchern und amtlichen Formularen sowie Fotografien „bloß“ in Beziehung zueinander bringe, um ein „kollektives Tagebuch“ zu verfertigen. Aber das Vorgehen hat Methode. Sie offenbart sich im Prozess der Lektüre. Eine vorab zu unterstellende und vom Leser nicht zu überprüfende Parteinahme ist jedenfalls nicht vorhanden, ja, sie wird geradezu gemieden. Steffen soll selbst zu Wort kommen. Hartmann gibt sich nicht „klüger“ als sein „Untersuchungsgegenstand“. Er sichtet das schier unüberschaubare Dokumentenmaterial, prüft kenntnisreich und wählt an Texten und Fotografien klug aus, was exemplarisch gültig und sprechend ist. Er wagt es an den entscheidenden Stellen durchaus, dem Dichter ins Wort zu fallen, um gegebenenfalls dessen subjektive Irrtümer zu kennzeichnen. Ansonsten wird ungefiltert aus den bisher nicht publizierten Tagebüchern offengelegt, was man nicht kannte und wie und woran Steffen arbeitete oder litt. Vor allem dessen frühes Leid, auftauchende Selbstmordgedanken, seine durchaus vorhandene Neigung zum Hass, seine Antipathien gegenüber bestimmten Nahrungsgewohnheiten und „alten Damen“ und das ihn auch später immer begleitende Empfinden einer Traurigkeit, Einsamkeit und unerbittlichen Selbstbefragung zeigt dem Leser eine bisher unbekannte Seite des vermeintlich so „arglosen“ und um innere Reinheit bemühten Dichters. Durch die ausführlichen Zitate und privatesten Originalstellen gewinnt Steffen für den heutigen Leser eine nie gekannte Menschlichkeit hinzu, die sein Ringen um eine neue, spirituelle Dichtkunst in weit höherem Maße nobilitiert als es eine bloße und wortreiche Lobeshymne vermöchte. Sehr eindrücklich zusammengestellt sind darüber hinaus die „schönen“ und gesundenden Erlebnisse dieser frühen Jahre: Die Natur und Heimat der Schweiz, das Schwimmen in der Aare, die Liebe zu den Blumen, den Verstorbenen und dem schon in der Jugend auftauchenden Bewusstsein, mit dem dichterischen Wort zu heilen, was das Skalpell des Mediziners, etwa seines Vaters, nicht dauerhaft vermag. Wir lernen durch Steffens Blick noch einmal bekannte Zeitgenossen kennen (Hermann Hesse, Robert Walser, Paul Klee, Rainer Maria Rilke), erfahren, welche Literatur ihm wichtig gewesen ist (Kant, Nietzsche, Dostojewski), hören etwas über die akademischen Lehrer und die geistige Atmosphäre seiner Wohnorte und, für viele dürfte das in der dargebotenen Intensität neu sein, über die umfassende „Bandbreite“ seiner erotischen, seelischen und geistigen Liebeserfahrungen und Liebesversuche. Die tiefe Lebensbegegnung mit der baltischen Ausdruckstänzerin Elsa v. Carlberg etwa wird ausführlich dargestellt und mit intimen Tagebuchnotizen belegt. Die Bedeutung Elsa v. Carlbergs ist für Steffens weitere Biographie und sein gesamtes Oeuvre kaum hoch genug einzuschätzen. Eine Entdeckung! Sehr sorgfältig geht Hartmann auch auf das andere existentielle Motiv ein, das uns Steffen schon vor seiner Begegnung mit Rudolf Steiner und der Anthroposophie als äußerst spirituell begabten und empfindsamen Menschen schildert. Seine künstlerische Veranlagung fand durch die Anthroposophie die Möglichkeit, sich bewusst und methodisch durch eine geisteswissenschaftlich orientierte Meditation und Erkenntnisbemühung zu erweitern. Der Dichter entdeckt durch sie die Berechtigung seines ganz spezifischen, individuellen und künstlerischen Weges zur Einweihung. Er war und wird zu keiner Zeit Sklave einer Theorie oder Weltanschauung. Nach dem Besuch eines Steiner-Vortrags notiert Steffen, wie nötig ihm die „Erkenntnisse höherer Welten“ seien, wie er es aber vorerst noch als eine Art von „Schmach“ empfinde, nur mit den durch Rudolf Steiner vermittelten Kräften leben zu müssen. „Selbst kann ich mir diese Kräfte nicht holen. Dr. Steiner muss sie mir vermitteln. O wann kommt der Zeitpunkt, da ich selber sie holen kann? Nein länger kann ich diese Schmach nicht tragen.“ (S. 191) Quod erat demonstrandum. Es ist durchaus löblich, dass Hartmann sich im Hinblick auf Erkenntnisse karmischer Zusammenhänge für das Leben Steffens nicht in ausufernde Spekulationen verliert. Aber sein lakonischer Hinweis, dass „innerhalb der anthroposophischen Leserschaft“ der Dichter in einer früheren Inkarnation mit Giotto in Verbindung gebracht werde, erfährt, außer der Rückversicherung auf eine private Briefaussage Rudolf Steiners, keine weitere Begründung. Ausführlicher wird dagegen der Blick auf einen Zusammenhang mit den von Rudolf Steiner in mehreren Vorträgen erwähnten zwei Mitgliedern einer Essäer-Gemeinde gerichtet (S. 250 ff.). Hartmann belässt diesen insgesamt zu kurzen Hinweis immerhin im Konjunktiv („Könnte man …nicht…?“). Auch das ist gut so. Der Frage ist nachzusinnen. Warum sollte sie uns vom Biographen „eindeutig“ abgenommen und beantwortet werden? In dieser Beziehung gilt die Monatstugend: Diskretion wird zu Meditationskraft!
Klaus Hartmann referiert im Weiteren nachvollziehbar und treffend das Zustandekommen und die Inhalte der frühen Romane und Dramen. Und er zeigt sich selbst als Biograph „dramaturgisch“, indem er mit einer sehr dichten und historisch vibrierenden Dokumentationsfülle der Kriegsereignisse und ihrer Revolutionsfolgen für die damalige Kultur, Politik und Gesellschaft und für die Neuorientierung Steffens den ersten Band in einer Art biographischen Crescendos enden lässt.
Gleichen die ersten Kapitel einem epischen Prélude, die Jahre in Berlin und München der lyrischen Stimmung con amore, so dominiert eine unüberhörbare Dramatik die letzten Seiten des Buches, bevor der Vorhang fällt.
Es wird spannend, wie in den folgenden zwei Bänden Steffens authentische Sicht ein pointiertes Licht auf die dort darzustellenden Ereignisse werfen dürfte. Aber es ist höchste Zeit, Albert Steffens Leben als Dichter, wie es uns durch die vorliegende Biographie neu bekannt werden kann, als Zentrum seines anthroposophischen und sozialen Wirkens zu begreifen. Aus der künstlerischen Quelle schöpfte er immer wieder seine Kräfte. Das galt für die Zeit des Ersten Weltkrieges, das galt auch für die spätere Zeit als Vorsitzender der Gesellschaft: „Der Krieg sagt doch, dass alles in der Kunst auf Leben und Tod gehen muss. Sonst ist es Weltflucht. Und weil der Krieg eine Prüfung ist, so soll es auch jedes Buch sein. Wir müssen eben in der Stimmung: Es geht auf Leben und Tod! sein, wenn wir die Erde richtig erleben wollen.“ (S. 287)
Dem Biographen und den Herausgebern des Verlags ist zu wünschen, dass sie ihren Mut der weiteren Dokumentationsarbeit beibehalten. Nur durch eine sachliche Offenlegung der vorhandenen Quellen ist jedem zukünftigen Leser eine eigene Urteilsbildung ermöglicht. Ein sehr informativer, in höherem Sinn unterhaltsamer und notwendiger Anfang ist gemacht.
Heinrich Schirmer
Unlandweg 16
32469 Petershagen
Deutschland
(Erschien in leicht gekürzter Fassung in der Wochenschrift „Das Goetheanum“ am 27.2.2020)