Zu den Erinnerungen von Albert Steffen
im Heft Hinweise und Studien (Nr. 32) der Albert SteffenStiftung
Unendlich viele Erlebnisse brachte uns der sechs Kilometer lange Schulweg nach Langenthal. Wir mussten uns schon morgens um 5 Uhr erheben. Ich weiß noch, welchen Eindruck es auf mich Zehnjährigen machte, als ich zum erstenmal die Nacht sah, die zum Morgen wurde. Ich war noch nie so früh aufgestanden. Die Sterne waren eben im Erbleichen, die Ästchen der Bäume bewegten sich durch die taumelnd auffliegenden Vögel. Das Gras, durch das wir treten mussten, war ganz nass vom Tau. Und so mit staunend befangenen Sinnen hinaustretend vor das Haus, noch befangen im Traum, von den Erscheinungen in Verwunderung gesetzt, wurden wir von den Freunden in merkwürdige Pläne eingeweiht. Wir wurden schweigend durch Baumgärten geführt, zwischen Hecken, deren Schatten uns verbarg, und plötzlich hielt man still in dem nassen, hohen Gras, begann sich zu bücken und zu suchen. Wir Neulinge erreichten keine Äpfel, da wir nicht wussten, wo die am dichtesten behangenen Äste waren, oder wir erreichten nur ganz unreife, kleine, grüne. … (S. 54)
So poetisch kann es klingen, wenn Albert Steffen sich in seinen Aufzeichnungen zu Kindheit und Reifezeit an den Schulweg erinnert. Zum „Erinnern“ schreibt Rudolf Steiner:
Als Bewahrerin des Vergangenen sammelt die Seele fortwährend Schätze für den Geist auf. Dass ich das Richtige von dem Unrichtigen unterscheiden kann, das hängt davon ab, dass ich als Mensch ein denkendes Wesen bin, das die Wahrheit im Geiste zu ergreifen vermag. Die Wahrheit ist ewig; und sie könnte sich mir immer wieder an den Dingen offenbaren, auch wenn ich das Vergangene immer wieder aus dem Auge verlöre und jeder Eindruck für mich ein neuer wäre. Aber der Geist in mir ist nicht allein auf die Eindrücke der Gegenwart beschränkt; die Seele erweitert seinen Gesichtskreis über die Vergangenheit hin. Und je mehr sie aus der Vergangenheit zu ihm hinzuzufügen vermag, desto reicher macht sie ihn.
(Theosophie, 1904, Kap. „Wiederverkörperung des Geistes und Schicksal“)
Das neue Heft (Nr. 32) der Reihe Hinweise und Studien, die von der Albert SteffenStiftung herausgegeben wird, trägt den Titel Erinnerungen. Denselben Titel hat eine Sammlung von kurzen Texten von Albert Steffen, die den Hauptteil des Heftes ausmacht. Diese wird hier besprochen. Das Manuskript zu den Erinnerungen lag schon lange im Archiv der Albert Steffen-Stiftung. Es wurde seinerzeit von Hans und Sophie Schmidt, die auch die vielen Tagebücher von Albert Steffen in mühevoller Arbeit transkribierten, aus nachgelassenen Manuskripten und Tagebuchaufzeichnungen zusammengefügt unter dem Arbeitstitel „Zwischen den Zeilen des Lebens – Kindheit und Reifezeit“.
Albert Steffen (1884-1963) wuchs in Murgenthal im Kanton Bern, an der Grenze zum Aargau, als Sohn eines Landarztes auf. Sein langer Schulweg führte ihn in den höheren Klassen nach Langenthal. Später, mit 14 Jahren, besuchte er das Gymnasium in Bern und wohnte dort bei Verwandten, im Hotel Storchen. Schon im Tagebuch des 22-jährigen Albert Steffen finden sich Aufzeichnungen zu seiner Kindheit, wie auch später immer wieder, ebenso zu seiner Reifezeit, also die Jahre ungefähr zwischen vierzehn und zwanzig. Überhaupt stellen die umfangreichen Tagebücher von Albert Steffen, die seit 1906 bis zu seinem Tod 1963 erhalten sind, einen Schatz dar, indem sie uns tiefe Einblicke in sein Leben und sein Werk geben, aber natürlich auch in die Verhältnisse am Hügel in Dornach und in der Anthroposophischen Gesellschaft. Da es aber intime Dokumente sind, müssen sie mit grosser Achtsamkeit und Verantwortlichkeit behandelt werden. Sie stellen auch wichtige Quellen zu Albert Steffens Werk dar, indem bei ihm das äussere Leben „ganz und gar in sein inneres Werk eingeströmt“ ist (Friedrich Hiebel). Hiebel schreibt überdies: „Es gibt kaum ein zweites Dichterleben unter unserer Zeitgenossenschaft, welches das Persönliche so rein und objektiv in das Überpersönliche zu sublimieren vermag.“ (In: Albert Steffen – Die Dichtung als schöne Wissenschaft, A. Francke Verlag, Bern 1960, S. 16). Albert Steffen selbst schreibt:
Erst in meinem Alter ergaben sich die Werte, die meine Kindheitserlebnisse für mich als Dichter hatten. Meine Werke wurden, wenigstens was das äußere Gewand betraf, dadurch bestimmt, dass ich gerade in diesem Haus, dem eines Arztes, und in diesem Dorf, in welchem er seine Praxis hatte, umgeben von diesen Wiesen, Äckern, Wäldern und Hügeln, an diesem Fluss geboren wurde und aufwuchs. (Erinnerungen, S. 6)
Steffen verarbeitet seine Erinnerungen in seinem literarischen Werk in verschiedener Form. So dienten offensichtlich auch einige Passagen aus diesen Aufzeichnungen als Vorlage für das Buch der Rückschau (1939), wie etwa die Stelle über den anatomischen Atlas, den die Kinder auf dem Dachboden fanden (S. 15). In diesem Werk stellt er den Stoff unverhüllt autobiographisch und in essayistischer Form dar. Im Roman Aus Georg Archibalds Lebenslauf und nachgelassenen Schriften (1950) hingegen schreibt Steffen seine Erinnerungen dem Protagonisten Georg zu. Es gäbe selbstverständlich viele weitere Beispiele. Hier befassen wir uns aber nicht mit dem eigentlichen literarischen Werk, sondern mit den Quellen, aus welchen dieses fliesst. Was uns mit den Erinnerungen vorliegt, sind lose, mehr oder weniger chronologisch zusammengestellte Aufzeichnungen. Es ist kein abgerundetes Ganzes und hat dementsprechend einen fragmentarischen Charakter. Gerade dieses Fragmentarische hat aber auch seinen eigenen Reiz. Etwas Poetisches ist ihm inhärent. Und besonders als Form für Erinnerungen passt es, weil diesen das Bruchstückhafte eigen ist. Inhaltlich werden die Texte zusammengehalten durch das gemeinsame Thema: Erinnerungen an Kindheit und Jugend. In den einzelnen Texten wird der Fokus in der Regel auf ein besonderes Phänomen gerichtet, wie z.B. die „Müllerei“, den „Schulweg“, den „Knecht“, die „Natur“, die „Schule“ oder „Krankheit“. Auch wenn dies „nur“ Aufzeichnungen sind, finden wir in diesen doch auch einige Merkmale des Schriftstellers.
Albert Steffens schlichte, poetische Sprache prägt an vielen Stellen auch diese Aufzeichnungen. Man kann, wenn man so will, diese Texte mit dem literarischen Begriff „Miniatur“ bezeichnen: Eine „bildhafte Beschreibung, [ein] kurzer Text mit zahlreichen, mit Wörtern gemalten Bildern“, schreibt Wikipedia dazu; wobei Steffens Texte stellenweise in sinnende Betrachtung übergehen. „Steffen malt mit Worten.“, schrieb Rudolf Steiner zu Steffens erstem Gedichtband Wegzehrung (1922). Erinnerungen sind ja schon per se bildhaft. Diese Erinnerungsbilder malt Steffen gekonnt mit Worten auf das Papier, damit eine Forderung Rudolf Steiners erfüllend, der Mensch müsse nun das Herzdenken entwickeln und die intellektuell abstrakten Gedanken wieder ins Bild bringen. Steffens Aufzeichnungen sind Erinnerungsbilder, die reich an Sinneswahrnehmungen, tief gefühlt und gedanklich durchdrungen sind. Die Bedeutung des Gefühls in diesem Prozess betont er selbst an einer Stelle im Text:
Ich könnte jetzt auf den Grasplatz hinuntereilen und eine Löwenzahnblüte holen und alles daran studieren, um die Erinnerungen an die Kindheit wachzurufen. Ich hole sie lieber aus dem Pflanzgrund meiner Seele. Denn wenn ich sie so in mir sichtbar mache, so kommen alle Gefühle jener Zeit mit herauf. Ich bin ja in ihr drinnen, in ihren Sonnenkreisen, welche die Wiese zu einem Goldteppich machten. … (S. 25/26)
In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals auf den Vorgang des Erinnerns, wie Rudolf Steiner ihn beschreibt, zurückkommen:
Es sei nun erst das Gedächtnis betrachtet. Wie kommt es zustande? Offenbar auf ganz andere Art als die Empfindung oder Wahrnehmung. Ohne Auge kann ich nicht die Empfindung des „Blau“ haben. Aber durch das Auge habe ich noch keineswegs die Erinnerung an das „Blau“. Soll mir das Auge jetzt diese Empfindung geben, so muss ihm ein blaues Ding gegenübertreten. Die Leiblichkeit würde alle Eindrücke immer wieder in Nichts zurücksinken lassen, wenn nicht, indem durch den Wahrnehmungsakt die gegenwärtige Vorstellung sich bildet, zugleich in dem Verhältnisse zwischen Außenwelt und Seele sich etwas abspielte, was in dem Menschen eine solche Folge hat, dass er später durch Vorgänge in sich wieder eine Vorstellung von dem haben kann, was früher eine Vorstellung von außen her bewirkt hat. […] Die Vorstellung, die ich jetzt habe, ist eine Erscheinung, die mit dem „jetzt“ vorübergeht. Tritt Erinnerung ein, so findet in mir ein Vorgang statt, der die Folge von etwas ist, das außer dem Hervorrufen der gegenwärtigen Vorstellung in dem Verhältnis zwischen Außenwelt und mir stattgefunden hat. Die durch die Erinnerung hervorgerufene Vorstellung ist eine neue und nicht die aufbewahrte alte. Erinnerung besteht darin, dass wieder vorgestellt werden kann, nicht, dass eine Vorstellung wieder aufleben kann. Was wieder eintritt, ist etwas anderes als die Vorstellung selbst. […] – Ich erinnere mich, d.h.: ich erlebe etwas, was selbst nicht mehr da ist. Ich verbinde ein vergangenes Erlebnis mit meinem gegenwärtigen Leben. (Theosophie, 1904, Kap. „Wiederverkörperung des Geistes und Schicksal“)
Das Erinnern ist also ein seelisch-geistiger Vorgang, völlig losgelöst von den Sinneswahrnehmungen. Das ist auch etwas, das man instinktiv fühlt, wenn man Steffens Erinnerungen liest, ja ganz allgemein, wenn man literarische Erinnerungen liest. Durch Steiners Erläuterungen werden wir noch auf etwas Wesentliches an diesen Aufzeichnungen hingewiesen: Dass Steffen hier, sich erinnernd, seine vergangenen Erlebnisse mit seinem gegenwärtigen Leben verbindet. Daraus erwachsen eben die Früchte für den Geist.
Nun möchte ich in diesem Sinne zwei ausgewählte Textstellen als Kostproben zitieren. Von den verschiedenen Erinnerungen, die Steffen beschreibt, ist das Erleben des Knaben in und an der Natur eine wichtige und wiederkehrende. Im folgenden Textausschnitt kann der Leser einerseits erkennen, wie Steffen schon als Kind mit Hingabe beobachten konnte, andererseits, welch schöner Dialog stattfindet im Text zwischen dem Erleben des Kindes und dem Erinnernden:
Besonders liebte ich es, die Unterschiede der unscheinbaren Gräser herauszusehen. Sie hatten keine Blumenblätter und waren doch so eigenartig mit ihren Rispen, Halmen und Ähren, mit den Lanzettblättern und Grasstengeln, mit ihren Knäueln, Walzen und Pinseln, mit ihren Spitzen und Spelzen. Aus ihnen hoben sich Weizen, Hafer, Roggen, Gerste, Mais und Hirse hervor.
Sie waren vielleicht erst auf dem Wege, etwas zu werden. Während die bunten Blüten auf eine lang vergangene, wunderbare Paradieszeit hinwiesen, zeigten sie auf eine kommende Epoche. Vielleicht werden dann neue Getreidearten aus ihnen erwachsen. Man konnte ihre Samenkörner zu etwas verwenden, was die Blüten nicht hergaben. Da waren die edelsten Gräser die, welche Brot gaben. Und wir verstanden die Kühe an der Krippe so gut, wenn wir das Heu gerochen hatten. Die Kühe aßen keine Blüten, sondern nur Gräser, nicht Kornblumen und Mohn. Also musste das Gras doch mehr wert sein. Auch der Knecht sagte es. Und so wurden wir nicht Ästheten. […]
Dann kamen wir in das Revier der Köchin, wo der Kohl wuchs. Wir wunderten uns, wie er so schlank aufwuchs und plötzlich fett war. Weiß- und Rotkohl und Blumen- oder Rosenkohl konnte man sogar roh essen, was wir versuchten, denn wir konnten durch den Geschmack etwas lernen. Auch Kohlrüben, Rettiche, Radieschen rupften wir aus und Kresse. Das musste gekostet sein. (S. 25)
Nach diesen sinnesgesättigten Erinnerungen an Naturerlebnisse möchte ich hier noch eine Textstelle zu einem ganz anderen Thema zitieren. Von besonderem Interesse können uns gerade heute Steffens Schilderungen von Krankheit und seine daraus folgenden tiefsinnigen Gedanken sein. Als Sohn eines Landarztes wurde Steffen früh konfrontiert mit Leiden und Tod, und er schreibt, die Erfahrungen an diesen „Schicksalen“ seien für ihn und sein Werk „wesentlich“ gewesen. (S. 6) Hier möchte ich nun aber eine Passage zitieren, wo Steffen sich erinnert, wie er selbst krank war, nachdem der Hund des Grossvaters ihn in die Backe gebissen hatte. Er bekam eine Lysolvergiftung und war mehrere Monate krank, einige Zeit sogar dem Tode nah:
Noch entsinne ich mich, wie mein Großvater an mein Bett kam und niederkniete. Er machte sich fürchterliche Vorwürfe, dass er den Hund, der immer böse gewesen war, nicht vorher erschossen hatte. Er war aber ein vorzüglicher Stellhund gewesen. Jetzt war er tot.
In jener Zeit wurden mir Bilder aus dem Leben Jesu gekauft, die einen seltsamen Eindruck auf mich machten. Es waren die ersten Bilder, auf denen edle Menschen, Männer und Frauen, abgebildet waren, und ich weiß noch, dass ich wochenlang nichts anderes als diese edlen Formen, diese wunderbaren Farben empfinden konnte. Wie sich der Herr bückte, wie er wandelte, wie er seine Hände ausbreitete, wie er das Meer beherrschte, wie er beweint, wie er gefoltert, gekreuzigt wurde und auferstand, das alles musste von meinen Kinderaugen unermüdlich getrunken, aufgenommen werden. Und so war hier einem Kinde das tiefste Menschentum das Liebste, das, was es am meisten beschäftigte, das, was ihm am wahrsten schien von allem, was je geschehen war. Es sprachen zum erstenmal innere Wirklichkeiten zu ihm, und es nahm sie mit der untrüglichen Empfindung des Kindes auf. So wie ich damals in meinem siebenten Jahr ganz plötzlich, nachdem ich bald in eine tiefe Weltennacht versunken war, diesen neuen Glanz in mich aufnahm wie ein Aufgehen der Sonne, wie den Beginn eines neuen Geschehens, als etwas Neues, als etwas, das mir das Sonnigste, das Süßeste, das Lebenerfüllendste war, so hatten einst ganze nördliche Völker das Christentum eingesogen. Wenn ich damals, so nah am Tode, dieses Leben nicht aufgenommen hätte, wäre ich da vielleicht nicht ganz versunken in den Tod?
In einem solchen innerlichen Leben befand ich mich einige Monate. Ich empfand da nicht nur alle die hohen Gefühle, die von jenen Gestalten ausgingen, ich empfand die Gefühle einer liebenden Mutter, die in ungeschwächter, oft jäher Gewalt sich äußern mussten. Denn meine Mutter war eine starke Natur. Und ich empfand die des Großvaters, der täglich an mein Bett kam. Auch die von andern Menschen, unter denen sich wirklich edle Naturen befanden. Und ich wurde so beschenkt, wie es nie geschehen wäre ohne die Krankheit. Es muss dies um die Zeit meines siebenten Geburtstages gewesen sein. Denn als ich wieder genesen war, war es Frühling, und ich befand mich in der zweiten Klasse. Noch sehe ich mich mit verbundenem Kopf unter den Kindern sitzen.
Von dieser Krankheit sind mir viele Einzelheiten noch in Erinnerung. So entsinne ich mich noch sehr gut, wie man die Fäden herauszog. Ich entsinne mich des Bettchens, worin ich lag, und einzelner Brechanfälle während der Vergiftung. Aber immer habe ich allem dem gegenüber eine große Ruhe bewahrt.
Ich kann mir gut vorstellen, dass auf eine ähnliche Art wie hier die Krankheiten einen Nutzen haben. Sie vertiefen die Liebe der Eltern, sie nähren das Kind auf geistige Art. Es treten in seinen Horizont plötzlich die Verwandten, die Nachbarn, der Pfarrer, die Lehrer, und alle geben ihm etwas Inneres, nehmen ein Bild nach Hause, das den Wunsch in ihnen erweckt zu helfen.
Wer möchte nicht helfen, wenn er einen Kranken gesehen hat! In wem wird nicht die Sehnsucht wach, die Welt von ihren Leiden zu befreien! Ohne solche Sehnsucht aber wird nie Großes geschehen. (S. 19-20)
Im Anschluss daran schreibt Steffen über den Tod seines Bruders:
Ich hatte einen kleinen Bruder, der einige Jahre älter war als ich, einige Monate krank lag und im siebenten Jahre starb. Ich weiß heute noch, wie in den Eltern alle Liebe, das Tiefste wach wurde, wenn sie an ihn dachten. Sie hatten seinetwegen so viele liebende Empfindungen, so viel Sanftheit ausgeströmt, dass ihr ganzes späteres Leben davon gefärbt wurde. (S. 20-21)
Solche Erinnerungen und Gedanken berühren den Leser unmittelbar und regen seine eigenen Gedanken und Gefühle an. Zum Schluss möchte ich zum Schulweg zurückkehren, auch wenn es in einem gewissen Kontrast zu den frommen Gefühlen im Krankenbett steht – so wie auch diese Textsammlung das ganze Spektrum des Lebens abbildet. Wehmütig werde ich, wenn ich Albert Steffens Erinnerungen an seinen Schulweg lese. Seine Beschreibung zeigt im Kleinen, was für einen Schatz von unmittelbaren und unverfälschten Erfahrungen das Leben damals auf dem Lande einem Kind noch bot. Erstaunlich ist, wie frei die Kinder sich bewegen konnten. Arm erscheint mir dagegen das eingegrenzte Aufwachsen der Kinder heute. Steffens Erinnerungen an den Schulweg wecken eine Sehnsucht nach dem ursprünglichen, elementaren Leben:
Unsere Jugend hatte etwas Kühnes, ja Wildes an sich. Und zu unserem Tun hatten wir die größte Freiheit und den ausgedehntesten Spielraum. Von morgens fünf an waren wir vollkommen uns selber überlassen. Wir schritten in die Nacht hinaus auf unsern anderthalbstündigen Schulweg, und sofort war unser ganzes Fühlen und Denken umwoben von den Zaubermächten der Dunkelheit. Auf diesem Schulweg wollten wir frei wie Ritter und Räuber sein und konnten deshalb keinen feigen Menschen unter uns dulden.
Die Eltern wussten kaum, um wieviel Uhr die Schule aus war, oder sogar nicht, ob wir den Nachmittag hindurch frei hatten, und waren zufrieden, wenn wir bei anbrechender Nacht ins Haus traten. Da wurde uns dann gekocht. Da wurden uns die trockenen Kleider gebracht. Da mussten wir uns am Herde wärmen. Wir nahmen ein Abenteuerbuch in die Hand und kamen auch jetzt noch nicht aus dem Kriegerleben heraus. […] (S. 60)
Mit der Herausgabe seiner Erinnerungen kann Albert Steffens Erinnern nicht nur seinen Geist bereichern, sondern auch unsern.